Gudrun Hanisch

Textilgestaltung und Grafik

Startseite > Umwege


Wenn ich einen 100-m-Lauf mache, ist es mein Ziel, diese gerade Strecke so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ich möchte aber eine Wanderung machen! Der Weg ist unbekannt, ich beobachte aufmerksam, wo ich laufe, was um mich herum zu sehen ist, und ich kann stehen bleiben, um die Umgebung auf mich wirken zu lassen, oder ich kann etwas unter die Lupe nehmen und genauer betrachten. Hat der Weg Kurven, kann ich nicht sehen, was hinter der nächsten Biegung passiert - ich möchte mich überraschen lassen! Unvorhergesehenes kann mir begegnen oder Abzweigungen fordern eine Entscheidung. Vielleicht komme ich auch mal vom Weg ab, es kann Neugier oder Unkenntnis sein und vielleicht mache ich gerade dort eine wunderbare Entdeckung! Mein Weg folgt keinem Plan, meine Gedanken spielen in der Zeit. Ich möchte mit vielen guten Eindrücken und Erinnerungen irgendwann wieder zu Hause ankommen. Ich denke nicht an das Ende des Weges, sondern gebrauche alle meine Sinne im Moment, Schritt für Schritt, ich möchte nur „da sein“.

Die Erinnerungen und Gedanken verdichten sich in meinem täglichen Tun, Vergessen und Bewahren bestimmen die Ergebnisse. Die Handhabe verschiedener Materialien und künstlerischer Techniken lässt Bildfindungen mit differenzierter Wirkung entstehen. Gedankliches Verdichten und handwerkliches Verdichten gehen Hand in Hand. Im Ergebnis sind sie real ablesbar in den Collagen mit den Überlagerungen der Seidenstreifen, in den Faltungen im Überlagern der Flächen und Strukturen, in Filzarbeiten im Überlagern von Fasern, in Fotomontagen im Überlagern von Fotosequenzen. Diese Betrachtung kann ich beliebig fortsetzen und habe immer den gleichen gemeinsamen Nenner: Wenn ich Glück habe, sind meine persönlichen Erinnerungen in ihrer Verdichtung zu allgemeingültiger Form geraten. Das ist der Lohn für die zurückgelegten Umwege. Die Wanderung ist gleichzeitig Weg und Umweg!

Gudrun Hanisch, Hannover, Januar 2017